Der „Hof vorm Deich“, der ganz in der Nähe vom Milchhof Reitbrook in den Vier- und Marschlanden liegt, fällt auf den ersten Blick nicht weiter auf. Ähnlich wie bei den umliegenden Höfen stehen hier einige Gewächshäuser, dahinter schlängelt sich ein Arm der Gose-Elbe durch die Landschaft. Erst auf den zweiten Blick merkt man, dass hier vielleicht irgendwas anders sein könnte. Im ersten Gewächshaus, gut sichtbar von der Straße, hängt ein Banner mit der Aufschrift „Saatgutsouveränität“. Denn hier hat sich eine Gruppe zusammengeschlossen, die sich für ebendiese Saatgutsouveränität und den Erhalt alter Tomatensorten engagiert – der Tomatenretter e.V.. Als die Retter Ende August zum Hoffest geladen haben, habe ich dort mal vorbeigeschaut.

Aber was ist eigentlich Saatgutsouveränität? Und warum ist sie wichtig? Dafür müssen wir erstmal ein bisschen ausholen. Seit 1966 gilt in der EG bzw. EU das sogenannte „Saatgutverkehrsrecht“. Dieses besagt, dass nur mit Saatgut gehandelt werden darf, welches zugelassen wurde und gewisse Kriterien wie Unterscheidbarkeit, Homogenität und Stabilität erfüllt. Das sind Kriterien, die eigentlich nur von gezüchteten Sorten erfüllt werden können – verbunden mit weiteren bürokratischen Hürden zur Zulassung, die eigentlich nur große Agrarkonzerne mit ihren Züchtungen durchlaufen können. Bei diesen Züchtungen handelt es sich oft um sogenannte F1-Hybride, die zwar im ersten Jahr sehr ertragreich sind, aber aus denen sich keine Saatgut für die kommende Saison gewinnen lässt. Dies bedeutet, dass die Bauern in jedem Jahr neues Saatgut von eben diesen Konzernen kaufen müssen.

Alte, regional angepasste Sorten, aus denen sich wieder neues Saatgut gewinnen lässt, erfüllen die aufgestellten Kriterien meistens nicht. Zwar gab es bereits Bestrebungen, die Zulassung für Saatgut zu vereinfachen, doch auch hier wurde von den Saatgutkonzernen erfolgreich Lobbyarbeit betrieben: So ist z.B. festgeschrieben, dass Saatgut von sogenannten Erhaltungssorten nur in definierten Ursprungsregionen angebaut werden darf und der Marktanteil einer Sorte nicht mehr als 0,5% betragen darf. Innerhalb einer Art dürfen die Erhaltungssorten außerdem nur einen Gesamtanteil von 10% ausmachen. Um Umkehrschluss heißt dies, dass 90% des Marktes garantiert bei den Agrarkonzernen liegen. Betriebswirtschaftlich keine schlechten Aussichten. Für die Sortenvielfalt unserer Äcker und Beete allerdings ein Todesurteil. Und genau das wollen die “Tomatenretter” verhindern.

Das Tomatenretter-Kollektiv besteht in seinem Kern aus rund 8–10 Personen und hat sich auf die Fahnen geschrieben, sich für eine Saatgutsouveränität, also den freien Handel mit Saatgut und die Erhaltung alter Varietäten einzusetzen. Und das machen sie bisher sehr erfolgreich: Derzeit wachsen 139 verschiedene Tomatensorten in ihren Gewächshäusern.

Eine Zertifizierung dieser Arten wäre mit unglaublich hohen Kosten verbunden, meint Harald, ein Mitglied der Gruppe. Daher werben die Tomatenretter auch ganz selbstbewusst mit dem Spruch „Garantiert unkontrolliert“. Aber warum ausgerechnet Tomaten retten? Eigentlich ganz einfach, denn am Anfang stand die Idee, schmackhaftes Gemüse anzubauen. Und die Erkenntnis, dass altes, sortenreines Gemüse besser schmeckt als die Hybrid-Züchtungen aus dem Supermarkt. Also begannen die Mitglieder, sich genauer zu informieren. Die Idee der Tomatenretter war geboren.

Zusätzlich zu den Tomaten gibt es auf dem Hof inzwischen auch noch Selbstversorger-Beete mit verschiedenen Früchten, Gemüse und Kräutern für die Mitglieder des Kollektivs und ihre Familien und Freunde. Sicher ein romantische Vorstellung vieler Großstädter: Gemüse aus eigenem Anbau. Aber die vielen hundert Pflanzen auf dem Hof zu pflegen ist auch mit ganz schön viel Arbeit verbunden und kann nur schwer “nebenbei” erledigt werden. Deshalb haben sich die Mitglieder dazu verpflichtet, 8 Stunden pro Woche vor Ort zu sein und sich den anfallenden Arbeiten anzunehmen. In diesem Jahr kam dann sogar noch ein Angestellter dazu. Ole, ein ehemaliger Tontechniker vom Norddeutschen Rundfunk, macht eine Ausbildung als Gärtner und absolviert sein 4. Ausbildungsjahr bei den Tomatenrettern. Das Geld dafür haben die Tomatenretter mittels Crowdfunding gesammelt. Weitere Unterstützung für die Pacht des Hofes erhalten sie durch Fördermitgliedschaften: Denn jeder kann Tomatenretter werden und mit einem Beitrag von 5€ pro Monat die Aktion unterstützen – dafür erhält man dann einen Ernteanteil sowie Saatgut für den Anbau auf dem eigenen Balkon oder im eigenen Garten.

Innerhalb des Kollektivs existieren verschiedene Zukunftsvisionen für das Projekt. Während für Harald, der auch schon im Urban Gardening Projekt „Keimzelle“ im Hamburger Karoviertel engagiert war, die Selbstversorgung für sich und seine Familie im Vordergrund steht, schwebt Hilmar sogar der Aufbau einer solidarischen Landwirtschaft mit Selbstversorgungsschwerpunkt für die Mitglieder vor. Sicher einer der Punkte, die lebhaft im Kollektiv diskutiert werden. Und manchmal gestaltet sich auch die Koordination der Arbeiten zwischen Ole, dem Gärtner, und den Mitgliedern des Kollektiv etwas schwierig. Aber eins ist sicher: Aufgeben werden die Tomatenretter nicht so schnell, auch wenn es vielleicht unterschiedliche Vorstellungen oder ein paar kleine Koordinationsschwierigkeiten gibt. Dafür ist die Überzeugung, für gute Lebensmittel und die Erhaltung alter Sorten einzustehen, zu sehr in den Köpfen verwurzelt. Das merke ich bei meinem Besuch sofort.

Bevor ich gehe, kaufe ich noch ein Glas des Tomatenchutneys, das es hier zu probieren gibt. Dieses Chutney hat ein Mitglied des Kollektivs im vergangenen Herbst aus den übrigen grünen Tomaten eingekocht. Diese wären sonst nicht für den Verzehr geeignet, da sie – ähnlich wie der grüne Teil von Kartoffeln – die giftige Verbindung Solanin enthalten. Durch das Einkochen zum Chutney und die Beigabe von Säure in Form von Essig wird das Solanin im Chutney jedoch über die Zeit abgebaut. So können auch die grünen Tomaten, die sonst auf dem Kompost landen würden, verwertet werden. Ein weiteres Zeichen für den nachhaltigen und ganzheitlichen Einsatz der Tomatenretter. Und verdammt lecker obendrein.

Wer sich in Hamburg von der Qualität der Tomatenretter-Tomaten überzeugen und mehr über das Projekt erfahren möchte, sollte schnell sein: Kommenden Samstag, den 17. September, sind die Tomatenretter ein letztes Mal in dieser Saison am Lattenplatz beim Knust. Dort gibt es die Tomaten auch für Nicht-Mitglieder zu kaufen und die Mitglieder können sich Saatgut für die nächste Saison abholen. Und das kann ich jedem nur empfehlen. Denn die Tomaten der Tomatenretter sind wirklich großartig. Was den Geschmack angeht, können Supermarkt-Tomaten mit dieser wunderbaren Vielfalt aus den Reitbrooker Gewächshäusern niemals mithalten. Egal ob eher süßlich, sauer oder ausgewogen: Alle Sorten schmecken einfach unglaublich intensiv nach Tomate. So wie es sein soll.

Mehr zum Projekt der Tomatenretter sowie aktuelle News zu Verkaufsstellen und -terminen gibt es auf der Website des Projekts oder auf Facebook. Und auch ein Besuch auf dem Hof ist nach Terminabsprache möglich!

http://www.tomatenretter.de
http://www.facebook.com/tomatenretter

Hof vorm Deich
Reitbrooker Vorderdeich 291
21037 Hamburg

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Moin, Peter mein Name. 32 Jahre alt, Wahlhamburger mit süddeutschen Wurzeln und der Kopf hinter Kost. Ich poste mein Essen schamlos auf Instagram und wenn du mich loswerden willst, kannst du mich gerne auf jedem x-beliebigen Wochenmarkt aussetzen. Dann bin ich erstmal ein paar Stunden beschäftigt...

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